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Jürgen Spiler

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07/02/2014

Nebellinie

Grenzgänger

Was war die DDR und wie können wir überhaupt begreifen, was passiert ist? Anders kann man fragen, was ist Geschichte und in welcher Form ist es uns aus der Gegenwart heraus überhaupt möglich, Geschichte als „vergangene Wirklichkeit“ erleben zu können? Geschichte, die sich versucht mit starren, unverrückbar kalten Zahlen zu vermitteln, ist immer – oder vorsichtiger formuliert, zu großen Teilen – doch subjektiv geprägt. Die Geschichte eines Landes, die Geschichte einer Epoche oder ganz und gar die Geschichte der Menschheit ist immer an ganz individuelle Schicksale geknüpft und in dieser Form offenbart sie sich uns. Schreibt Niklas Luhmann, die Welt sei „kognitiv unzugänglich“, dann gilt dies umso mehr für die Unzugänglichkeit geschichtlicher Ereignisse. Wir können die Welt, so wie sie uns umgibt, immer nur beschreiben, wie wir sie sehen. Für die Betrachtung geschichtlicher Ereignisse potenziert sich diese Feststellung um ein wesentliches Kriterium: Nicht nur, dass unsere Wahrnehmung niemals voraussetzungsfrei sein wird, wir werden geschichtliche Ereignisse immer nur aus den Augen der Gegenwart sehen können. Beschreiben wir das Leben, erzeugen wir das Leben, heißt es schließlich bei Heinz von Foerster. Konstruieren wir also unsere Geschichte, indem wir sie aus den Augen der Gegenwart heraus beschreiben? Die Exkursion war ein Versuch, Geschichte mittels Fotografien zu erzählen, sie beschreibbar zu machen, sie festzuhalten. Es war eine Annährung an längst Vergangenes. Eine Spurensuche – und damit ebenso eine ganz persönliche Grenzerfahrung. „Ich war drei Jahre alt.“ „Ich war acht Jahre alt“ und so fort. Die Auseinandersetzung mit der schwer greifbaren Geschichte wurde oft begleitet von dem Moment des sich selbst Bezugsetzens, um eine Relation zur eigenen Geschichte zu finden und Geschichte in dieser Weise begreifen zu können. Oft hieß es auch, „das Grenzgefühl will sich nicht einstellen“, „die Grenze ist nicht greifbar“. Wie fühlt sich aber so eine Grenze oder gar das Grenzgefühl an? Viele Berichte der Menschen vor Ort konnten den Teilnehmern der Exkursion einen vagen Eindruck dessen vermitteln, was noch vor 20 Jahren Alltag war. Eine Staatsgrenze, die sich bis in das Individuum hinein manifestierte. Familien, die über eine Staatsgrenze hinweg der Beerdigung eines Familienmitgliedes nur aus der Distanz heraus beiwohnen konnten. Winken war verboten. Nähe undenkbar. Wie muss es sich anfühlen, wenn die eigene Tochter in unmittelbarer Nähe zur Grenze ihre eigene kleine Tochter in die Höhe streckt, damit der Opa seine Enkeltochter zumindest einmal sehen kann? Wie groß muss das Leid der Menschen in solchen Situationen gewesen sein und wie groß die Verzweiflung, wenn sie das eigene Leben aufs Spiel setzen, um diesem Staat zu entfliehen? All das waren Geschichten, die uns in den vier Tagen unserer Exkursion nach Bad Sooden-Allendorf erzählt wurden. Kann man diese Emotionen, diese Geschichten überhaupt in Bildern einfangen? Mehr als 20 Jahre später? Was uns bleibt, sind Überreste. Überreste alter Grenzanlagen, die heute den Weg in die Museen gefunden haben. Hier präsentieren sie sich als museale Artefakte, die ihrer eigentlichen Geschichte – ihrer Räumlichkeit aber auch ihrer Zeitlichkeit – entrissen sind. Sie machen es uns schwer, einen Eindruck davon zu gewinnen, was geschehen ist. Aber es sind nicht nur die materiellen Überreste, die uns bleiben. Entscheidender sind die Geschichten der Menschen. Geschichten, die sich zu ganz eigenen Bildern und Spuren formen. Aber es sind genau diese Bilder, die auf keinem Fotofilm fixiert werden können. „Das, was ich da sehe und spüre, kann ich in keinem Bild festhalten“, ein nicht seltener Ausspruch seitens der Studierenden. Unverstellte Bilder – Bilder einer subjektiven Vergangenheit, die oft Angst und Verzweiflung ausdrückten. In einer paradoxen Mischung aus persönlichen Geschichten, musealer Repräsentation, einer beklemmenden Atmosphäre einerseits und einer landschaftlich schönen Gegend andererseits offenbarte sich den Exkursionsteilnehmern ein Stück deutscher Geschichte. Bergketten, die durch unterschiedlichen Baumbewuchs lediglich erahnen lassen, dass sich hier einst die innerdeutsche Grenze durch das Land geschlungen hat; ein Fluss, der sich friedvoll durch das Land zieht und heute nicht mehr als eine ruhige ländliche Idylle beschreibt; Dörfer, die den Eindruck erweckten, niemals getrennt gewesen zu sein. Und eine Stille, die in Verbindung mit dieser Vergangenheit trügerisch erscheint. Unabhängig von all den vergangenen Geschehnissen bemächtigt sich die Natur dessen, was ihr 40 Jahre lang genommen wurde. Langsam – aber stetig. Bald werden jene „Narben“ in den Wäldern nicht mehr zu sehen sein. Die Natur scheint vergessen zu haben, was passiert ist. Was ist aber mit den Menschen? Können sie auch vergessen? Verheilt die „Narbe“, die sich tief in ihre Köpfe geschrieben hat, auch? Es wird Generationen dauern, bis die Narben verwachsen und nicht mehr sichtbar sind. Es braucht aber nicht nur Zeit. Es braucht jene Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sich die Exkursion zur Aufgabe gemacht hat. Nur wenn wir begreifen, dass Freiheit ein Gut ist, das gehütet und gewahrt werden muss, wenn wir verstehen, dass Demokratie nichts natürlich Gegebenes ist und Gerechtigkeit jeden Tag neu verhandelt werden muss, können wir aus eben dieser unserer Geschichte lernen. Die Exkursion der 15 Paderborner Studenten, die sich auf solch ein Wagnis eingelassen haben, war ein Stück weit ein Ausflug ins Unbestimmte. Was wollten wir finden? Was haben wir erwartet und was haben wir gefunden? Rückblickend waren die vier Tage, die wir Ende Oktober auf der Burg Ludwigstein verbracht haben, eine sehr persönliche und intensive Erfahrung. Es wurde viel gesprochen, es wurde geweint und es wurde viel gelacht. Die Ergebnisse, die diese Exkursion hervorgebracht hat, sind Erfahrungen, die weit über die Fixierung auf Fotopapier hinausgehen. Die entstandenen Bilder und Texte bezeugen die Intensität der Erfahrung und die Schwierigkeit, sich einem Gegenstand wie Geschichte zu nähern. In Gedichten und sehr persönlichen Texten haben die Studenten niedergeschrieben, was sie gefühlt haben. Die entstandenen Bilder bezeugen eine Leichtigkeit wie auch das bleierne Gefühl um das Wissen der Geschichte. Sie sind Ausdruck einer Auseinandersetzung und Zeugnis eines Sich-uneingeschränkt-Einlassens auf Unerwartetes und Unbestimmtes, was ungeheuren Respekt und Anerkennung verdient.

Kristin Wenzel

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